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Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt/NY 1988

 

  • Das so lange verkündete „Ende des Zeitalters des Nationalismus“ ist nicht im entferntesten in Sicht. Das Nation-Sein ist vielmehr der am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit. (12/13)

  • Hugh Seton-Watson: „So hat sich mir der Schluß aufgedrängt, daß man keine ‘wissenschaftliche Definition’ der Nation geben kann; das Phänomen hingegen existiert seit langem und es wird es auch in Zukunft geben.“ (1977) / Tom Nairn: „Das Problem einer Theorie des Nationalismus steht für das große historische Versagen des Marxismus.“ (1978) -> es gab jedoch nie die Suche nach theoretischer Klarheit, es handelt sich vielmehr um eine Anomalie des Marxismus, weshalb man den Nationalismus auch vernachlässigte (13)

  • A. geht davon aus, daß Nationalität oder Nation-Sein und Nationalismus kulturelle Produkte einer besonderen Art sind. Historische Entstehung, Bedeutungsveränderung und heutige starke Legitimität müssen erklärt werden. Zeigt, daß sich diese Produkte Ende des 18. Jhrts spontan aus einer komplexen „Kreuzung“ verschiedener histor. Kräfte destillierten. Einmal entstanden, bekamen sie Modellcharakter und konnten auf andere gesell. Bereiche übertragen werden, verschmolzen mit politischen und ideologischen Konstellationen. Seitdem wirken diese Kunstprodukte ausgesprochen anziehend.

  • drei Paradoxa des Nationalismus: 1. Der objektiven Neuheit von Nationen aus dem Blickwinkel des Historikers steht das subjektive Alter in den Augen der Nationalisten gegenüber. 2. Der formalen Universalität von Nationalität als soziokulturellem Begriff steht die marginale Besonderheit ihrer jeweiligen Ausprägungen gegenüber. 3. Der „politischen“ Macht des Nationalismus steht seine philosophische Armut und Widersprüchlichkeit gegenüber. (14/15)

  • Nationalismus wird zu oft als Weltanschauung gesehen. Er ist nicht wie Liberalismus und Faschismus zu fassen, sondern vielmehr wie Verwandtschaft oder Religion.

  • Im anthropologischen Sinne folgende Def.: Nation ist eine vorgestellte Gemeinschaft, vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt , da sich die Mitglieder nicht kennen (15). Alle Gemeinschaften sind vorgestellte Gemeinschaften, es gibt keine „echten“ wie Gellner meint, von denen er die falsche nationale Gemeinschaft abzuheben versucht (1964). Nicht ihre Authentizität unterscheidet sie, sondern die Art und Weise in der sie vorgestellt werden. Begrenzt, da sie in Grenzen lebt, die sie von anderen Nationen trennen. Keine Nation setzt sich mit der Menschheit gleich. Anders als Christen früher träumen Nationalisten nicht davon, daß alle Mitglieder der menschlichen Rasse ihrer Nation angehören werden (16). Souverän, da Begriff aus einer Zeit stammt, als Aufklärung und Revolution die Legitimität der als von Gottes Gnaden gedachten hierarchisch-dynastischen Reiche zerstörten. Religiöser Pluralismus trat hervor, der sich territorial ausdehnte. Nationen träumen davon frei zu sein, Maßstab und Symbol dafür ist der souveräne Staat. Gemeinschaft ist sie, da sie unabhängig von realer Ungleichheit als „kameradschaftlicher“ Verbund von Gleichen verstanden wird.

  • Wie kommt es, daß die kümmerlichen Einbildungen der jüngeren Geschichte so ungeheure Blutopfer gefordert haben? Antwort liegt in den kulturellen Wurzeln des Nationalismus. (17)

 

1. Kulturelle Wurzeln

  • Beispiel des Ehrenmals des unbekannten Soldaten als Symbol der Nation, da sich der Nationalismus, anders als Marxismus und Liberalismus, stark mit Tod und Unsterblichkeit befaßt (18). Tod ist die letzte Stufe in einer Schicksalshierarchie. Traditionelle religiöse Weltbilder beschäftigen sich mit dem Menschen als Lebewesen und der Kontingenz des Lebens und versuchen Antworten auf Leiden, Schmerz und Tod zu geben. „Die große Schwäche aller evolutionären/ fortschrittlichen Denkweisen, den Marxismus nicht ausgenommen, ist ihr unerträgliches Schweigen auf solche Fragen.“ (vgl. Debray 1978, S. 80) Sie befassen sich mit der Verbindung zwischen Toten und Noch-nicht-Geborenen, dem Mysterium der Wiedergeburt. Eine „Ewigkeit“ wird aufgestellt. Evolutionäres Denken dagegen befindet sich wiederum in Feindschaft zu jeglicher Kontinuität.(19)

  • Das 18. Jhrt markiert in Westeuropa nicht nur die Morgenröte des Nationalismus, sondern auch Abenddämmerung religiöser Denkweisen. Der Zusammenbruch des Paradieses macht den Tod willkürlich und überführt jeden Erlösungsgedanken der Absurdität. Notwendig wurde somit eine Umwandlung des Unausweichlichen in Kontinuität. Idee der Nation ist dafür gut geeignet. Es ist „Wunder“ des Nationalismus, Zufall in Schicksal zu verwandeln.

  • A. geht nicht simpel davon aus, Nationalismus habe die Religion abgelöst, oder die Erosion religiöser Gewißheiten habe ihn produziert. Er will ihn nicht in eine Reihe mit Ideologien stellen, sondern mit großen kulturellen Systemen, die ihm vorausgegangen sind und aus denen er entstanden ist. Religiöse Gemeinschaft und dynastisches Reich sind die zwei herausragenden kulturellen Systeme und Bezugssysteme, ganz so wie die Nation heute. Was hat diesen Systemen ihre selbstverständliche Plausibilität verliehen und welche Schlüsselelemente des Zerfalls sind auszumachen?

Die religiöse Gemeinschaft

  • Religionen waren nur vorstellbar durch das Medium einer heiligen Sprache und überlieferten Schrift. Alle klassischen Gemeinschaften definierten sich über das Medium einer an eine überirdische Ordnung geknüpften heiligen Sprache. Die Reichweite war daher unbegrenzt. Je „toter“ eine Sprache - je weiter von der Rede entfernt - desto besser: Zu einer reinen Welt von Zeichen hat im Prinzip jeder Zugang. (21) Waren die stummen heiligen Sprachen das Medium, in dem die großen, weltumspannenden Gemeinschaften der Vergangenheit vorgestellt wurden, so hing die Realität solcher Gebilde von einer Idee ab, die dem zeitgenössischen Denken des Westens größtenteils fremd ist: die Nichtwillkürlichkeit des Zeichens. Die Ideogramme des Chinesischen, Lateinischen oder Arabischen waren keine willkürlich erzeugten Entsprechungen der Realität, sondern ihre Emanationen. Im Arabischen existiert die Vorstellung nicht, daß es eine von der Sprache unabhängige Welt gibt und daß alle Sprachen nur äquidistante und darum austauschbare Zeichen für diese Welt sind. Es ist eine „Wahrheitssprache“. Sie haben den Impuls zur Konversion, der dem Nationalismus weitgehend fehlt. Dabei waren die Schreib- und Lesekundigen die Eingeweihten, also eine strategisch wichtige Schicht in einem hierarchisch geordneten Kosmos mit einem göttlichen Gipfel.

  • Trotz der Erhabenheit und Macht dieser großen qua Religion vorgestellten Gemeinschaften schwand der unbewusste Zusammenhalt nach dem späten Mittelalter zunehmend: 1. durch die Wirkungen der Forschungsreisen in die außereuropäische Welt, die plötzlich den kulturellen und geographischen Horizont erweiterten und die Vorstellung des Menschen von möglichen Formen menschlichen Lebens (24), 2. durch die allmähliche Degradierung der heiligen Sprache ab dem 16. Jhrt. Dazu kommt die zentrale Bedeutung des Buchmarktes, auf dem zunehmend in den Landessprachen publiziert wurde. Untergang des Lateinischen war nur der Ausdruck eines umfassenden Prozesses, in dem die heiligen Gemeinschaften mit ihren alten heiligen Sprachen allmählich fragmentiert, pluralisiert und territorialisiert wurden. (27)

Die Dynastie

  • Grenzen waren noch durchlässig und unklar, Souveränitäten gingen kaum wahrnehmbar ineinander über. Expansion durch Kriege und Heiratspolitik (28). Während des 17. Jhrts zerfiel jedoch langsam die selbstverständliche Legitimität der religiösen Monarchien in Westeuropa. Noch 1914 stellten Dynastien die Mehrheit der Mitglieder des politischen Weltsystems, doch man griff zunehmend nach dem „nationalen“ Signet, da das alte Legitimitätsprinzip dahinschwand. (29)

Wahrnehmungsformen der Zeit

  • Es gab keine einfache Ablösung von Religion und Dynastie durch Nation, sondern einen Wandel der Wahrnehmungsformen, der es möglich machte die „Nation“ zu denken.(30)

  • Früher gab es eine religiöse Vorstellung des Gleichzeitigen, die keine Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart kannte (messianische Zeit bei Walter Benjamin), wie es uns heute fremd ist.(31) Unsere Vorstellung von Gleichzeitigkeit ist mit der Entwicklung der säkularisierten Wissenschaft verbunden. Den Platz des mittelalterlichen Denkens einer überzeitlichen Simultaneität hat eine Vorstellung von homogener und leerer Zeit eingenommen, in der Gleichzeitigkeit quer liegt, die Zeit also kreuzt, messbar durch Uhr und Kalender. Die technischen Mittel, die Repräsentationsmöglichkeiten für das Bewusstsein von Nation sind Roman und Zeitung. (32) Beispiel der Teilnehmer A,B,C und D, wobei sich A und D nie begegnen, und dennoch miteinander in Verbindung stehen: Sie sind eingebettet in Gesellschaft und der Leser weiß von ihrer Verbundenheit. Die Vorstellung eines sozialen Organismus, der sich bestimmbar durch eine homogene und leere Zeit bewegt, ist eine genaue Analogie zur Nation, die ebenfalls als beständige Gemeinschaft verstanden wird. (33)

  • Beispiele: „Noli Me Tangere“ von José Rizal (Philippinen) verknüpft die „innere“ Zeit des Romans mit der „äußeren“ Zeit des Alltagslebens der Leser und verdeutlicht damit die Stabilität einer die handelnden Personen, den Autor und die Leser einschließenden Gemeinschaft, die sich durch eine kalendarisch bestimmbare Zeit hindurch bewegt. Plötzliche Diskontinuitäten des Bewußtseins im Sinne Foucaults lassen sich sehr gut veranschaulichen. (35). Im ersten Roman Lateinamerikas findet die „nationale Vorstellung“ ihren Ausdruck in der Reise eines Einzelgängers durch eine gesellschaftliche Landschaft von großer Starrheit, wobei die Welt des Romans mit der äußeren Welt verschmilzt, beschränkt allerdings auf das koloniale Mexiko. (37) Die vorgestellte Gemeinschaft wird bestätigt durch die Verdoppelung, daß wir lesen, was „unser junger Mann“ liest. (39) Zeitung ist nur eine extreme Form des Buchs, das in großem Maßstab verkauft wird, doch nur eine flüchtige Popularität besitzt. Das Veralten der Zeitung bringt eine Massenzeremonie hervor: der praktisch gleichzeitige Konsum der Zeitung als Fiktion. (Hegel: Zeitung als Ersatz des modernen Menschen für das Morgengebet). Dem Leser ist bewußt, daß seine Zeremonie gleichzeitig von Tausenden oder Millionen anderen vollzogen wird, von deren Existenz er überzeugt ist, deren Identität er jedoch nicht kennt.

  • Kann man sich ein anschaulicheres Bild für die säkularisierte, historisch gebundene und vorgestellte Gemeinschaft denken als die in Intervallen wiederholte tägliche Zeitungsleküre? (41)

  • Das Druckgewerbe beschleunigte die Suche nach neuen Möglichkeiten Sinn, Macht und Zeit sinnvoll miteinander zu verbinden und neue Formen von Gleichzeitigkeit zu schaffen. (43)

 

2. Ursprünge des Nationalbewußtseins

  • Vor dem Hintergrund der unausweichlichen Vielfalt menschlicher Sprachen machte die Verbindung von Kapitalismus und Buchdruck eine neue Form von vorgestellter Gemeinschaft möglich, deren Grundzüge bereits die Bühne für den Auftritt der modernen Nation vorbereiteten. Die Ausdehnbarkeit dieser Gemeinschaften hatte ihre inhärenten Grenzen, und gleichzeitig bestand eine nur zufällige Beziehung zu den bestehenden politischen Grenzen (welche im großen und ganzen die äußersten Marksteine dynastischen Ausdehnungsdranges darstellten).

 

3. Alte Imperien, neue Nationen

        Es geht weniger um eine Klärung der sozioökonomischen Grundlagen für den Widerstand in der westlichen Hemisphäre gegen die Metropolen etwa zwischen 1760 und 1830, sondern um eine Erklärung, warum der Widerstand gerade in vielfältigen, „nationalen“ Formen - und nicht in anderen - sich ausdrückte. Der ökonomische Hintergrund ist wohlbekannt und zweifellos von grundlegender Bedeutung. Freiheitliche Ideen und die Aufklärung übten einen gewaltigen Einfluß aus, vor allem indem sie ein Arsenal kritischer Einwände gegen die Kolonialmächte und die Anciens régimes bereitstellten. Meine Argumentation lautet aber: Weder ökonomische Interessen, noch freiheitliches Gedankengut oder die Aufklärung konnten für sich allein diejenige Art oder Gestalt von vorgestellter Gemeinschaft hervorbringen, die gegenüber den Übergriffen der Mutterländer verteidigt werden sollte; mit anderen Worten: Keiner dieser Faktoren lieferte den Rahmen für ein neues Bewußtsein - d.h. die unsichtbaren Ränder des Blickfelds im Gegensatz zu den im Zentrum stehenden Gegenständen der Bewunderung oder Abscheu. Bei der Bewältigung dieser besonderen Aufgabe spielten die kreolischen Funktionäre und Provinzdrucker die entscheidende Rolle in der Geschichte.

 

4. Offizieller Nationalismus und Imperialismus

  • Die bisherige Argumentation versuchte zu zeigen, daß sich von etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts an in Europa ein von Seton-Watson so genannter „offizieller Nationalismus“ entwickelte. Historisch gesehen war dieser Nationalismus erst nach der Entstehung eines sprachlichen Volksnationalismus möglich, da er die Antwort vor allem dynastischer und aristokratischer Machtgruppen darstellte, die ihren Ausschluß aus vorgestellten Volksgemeinschaften oder die Marginalisierung fürchteten. Dieser offizielle Nationalismus war eine konservative, um nicht zu sagen reaktionäre Politik nach dem Modell eines Vorläufers, des zumeist spontanen Volksnationalismus. Letztlich blieb er nicht auf Europa und den Mittelmeerraum beschränkt. Im Namen des Imperialismus verfolgten Gruppierungen desselben Typs in den riesigen Gebieten Asiens und Afrikas, die im 19. Jhrt unterworfen wurden, eine ganz ähnliche Politik.

  • Fast immer verdeckte der offizielle Nationalismus das Auseinandertreten von Nation und dynastischem Reich. In der ganzen Welt tauchte dieser Widerspruch auf: Zwar sollten Slowaken magyarisiert, Inder anglisiert und Koreaner japanisiert werden, doch blieb ihnen allen der Aufstieg versagt, der es ihnen ermöglicht hätte, Magyaren, Engländer oder Japaner zu verwalten. Dies war nicht rassistisch bedingt, sondern weil sich Widerstand gegen die Fremdherrschaft regte.

 

5. Die letzte Welle

  • Wenn wir die Ursprünge des heutigen „kolonialen Nationalismus“ betrachten, dann fällt eine entscheidende Ähnlichkeit mit dem kolonialen Nationalismus früherer Epochen sofort ins Auge: Die räumliche Ausdehnung eines jeden Nationalismus deckt sich mit der ehemaligen Verwaltungseinheit eines Kolonialreichs. Sie steht im Zusammenhang mit der Geographie aller kolonialen Reisen.

  • Es ist immer ein Fehler, Sprachen so zu behandeln, wie es gewisse nationalistische Ideologien tun: als Symbole des „Nation-Seins“ wie Flaggen, Trachten, Volkstänze und dergleichen. Die weitaus wichtigste Eigenschaft der Sprache ist vielmehr ihre Fähigkeit, vorgestellte Gemeinschaften hervorzubringen, indem sie besondere Solidaritäten herstellt und wirksam werden läßt.

  • Die gedruckte Schriftsprache erfindet den Nationalismus, nicht aber eine Sprache per se. Außerdem sind Nationalismen des 20. Jahrhunderts aus einem Baukasten zusammengesetzt. Sie können sich auf eineinhalb Jahrhunderte menschlicher Erfahrung und drei vorhergehende Nationalismusmodelle stützen. Nationalistische Führer sehen sich darum in der Lage, zivile und militärische Ausbildungssysteme nach dem Vorbild des offiziellen Nationalismus zu installieren: dasselbe gilt für Wahlen, Parteiorganisationen und kulturelle Feierlichkeiten nach dem Modell des europäischen Volksnationalismus des 19. Jahrhunderts und für die Idee der Bürgerrepublik, der die Welt Amerika verdankt. Vor allem aber ist nun die Vorstellung der „Nation“ in praktisch alle Schriftsprachen fest verwoben, und das „Nation-Sein“ ist vom politischen Bewußtsein praktisch nicht mehr zu trennen.

  • In einer Welt, in der der Nationalstaat die überwältigende Norm ist, muß dies alles zusammen bedeuten, daß Nationen nun auch ohne sprachliche Einheit vorgestellt werden können.

  • Weil der schweizerische Nationalismus erst am Vorabend der Kommunikationsrevolution entstand, war es - wie bei den südostasiatischen Fallbeispielen - sowohl theoretisch als auch praktisch möglich, die vorgestellte Gemeinschaft auf eine Weise zu „repräsentieren“, die keine sprachliche Einheit voraussetzte.

  • Die „letzte Welle“ der Nationalismen, zumeist in den Kolonialgebieten Asiens und Afrikas beheimatet, war in ihren Ursprüngen eine Antwort auf den neuartigen, weltumspannenden Imperialismus, wie ihn die Errungenschaften des Industriekapitalismus möglich gemacht haben. Nicht zuletzt durch die Verbreitung des Buchdrucks hatte der Kapitalismus aber auch zur Entstehung landessprachlich fundierter Volksnationalismen in Europa beigetragen, die das uralte dynastische Prinzip mehr oder minder untergruben und jede Dynastie, die dazu in der Lage war, zur Selbsteinbürgerung in die neue Nation anstachelten. Der offfizielle Nationalismus wiederum - eine Verbindung aus dem neuen nationalen und dem alten dynastischen Prinzip - führte dazu, was man die „Russifizierung“ in den außereuropäischen Kolonien nennen kann. Diese ideologische Tendenz ging umstandslos mit praktischen Erfordernissen zusammen. Die Kolonialreiche des späten 19. Jahrhunderts waren zu groß und weitläufig, als daß sie von einer Handvoll eigener Staatsbürger hätten regiert werden können. Darüber hianus vervielfachten sich im Gleichschritt mit der kapitalistischen Entwicklung sowohl in den Metropolen als auch in den Kolonien rasch die staatlichen Aufgaben. Diese brachte Schulsysteme hervor, führte zu einem neuen Typ der Pilgerfahrt. Die Verknüpfung der jeweiligen Ausbildungs- und Verwaltungsfahrten lieferte die räumliche Grundlage für neue „vorgestellte Gemeinschaften“, in welchen die „Eingeborenen“ dazu gelangten, sich als „Staatsbürger“ zu verstehen. Der Kolonialstaat lud die „Eingeborenen“ in die Schulen und Amsstuben ein, der Kolonialkapitalismus schloß sie gleichzeitig von den Vorstandszimmern aus; so wurde eine einsame, zweisprachige Intelligenz, die der bodenständigen örtlichen Bourgeoisie nicht verbunden war, in bisher ungekanntem Maß zur frühen Schlüsselfigur des Nationalismus in den Kolonien.


6. Patriotismus und Rassismus

  • In den vorangegangenen Kapiteln skizzierte Anderson den Prozeß, in dem die Nation zunächst vorgestellt und dann zum Modell gemacht, adaptiert und transformiert wurde. Eine solche Analyse ist vor allem mit dem sozialen Wandel und verschiedenen Bewußtseinsformen befaßt; es bleibt aber dabei offen, ob der soziale Wandel oder die Veränderung des Bewußtseins viel zur Erklärung der gefühlsmäßigen Verbundenheit beitragen kann, die Völker gegenüber den Produkten ihrer Vorstellungskraft verspüren.

  • Nation-Sein steht der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Herkunft und der Zeit, in die man geboren wird, nahe, all dem, was nicht zu ändern ist. Was man in diesen „natürlichen Bindungen“ verspürt, könnte man die „Schönheit der Gemeinschaft“ nennen. Mit anderen Worten: Gerade weil solche Bindungen nicht bewußt eingegangen werden, erhalten sie den hehren Schein, hinter ihnen steckten keine Interessen.

  • Die Nation hat sich schon immer über die Sprache und nicht über das Blut bestimmt, d.h. man kann in die vorgestellte Gemeinschaft „eingeladen“ werden. Aus diesem Grund kennen selbst die abgeschiedensten Nationen heute die Möglichkeit der Naturalisierung - wie kompliziert sie diesen Akt in der Praxis auch immer gestalten mögen.

  • Als historische Unausweichlichkeit, aber auch als vermittels der Sprache vorgestellte Gemeinschaft erweist sich die Nation gleichermaßen als offen und geschlossen.

  • Der Nationalismus denkt in historisch-schicksalhaften Begriffen, während der Rassismus von immerwährenden Verunreinigungen träumt, die sich vom Ursprung der Zeiten an in einer endlosen Folge ekelerregender Kopulationen fortpflanzen: außerhalb der Geschichte. Antisemitismus überschreitet im allgemeinen nicht die Grenzen der Nation. Beide dienen weniger der Begründung von Kriegen gegen das Ausland als vielmehr der Unterdrückung und Herrschaft im Innern.

 

7. Der Engel der Geschichte

  • Der heutige Nationalismus ist der Erbe von zwei Jahrhunderten historischen Wandels. Aus all den von Anderson skizzierten Gründen ist diese Erbschaft janusköpfig.

  • Um Kriege zu begrenzen oder zu verhindern, ist es allein sinnvoll, Fiktionen wie „Marxisten als solche sind keine Nationalisten“ oder „Nationalismus ist die Pathologie der neueren Entwicklungsgeschichte“ aufzugeben. Statt dessen sollten wir uns allmählich darum bemühen, aus der wirklichen und vorgestellten Erfahrung der Vergangenheit zu lernen.