Thomas Nipperdeys "Übersetzung" des Historismus für eine moderne Methodologie der Geschichtswissenschaft

 

"Nichts lebt, das würdig wär´ deiner Regungen,
und keinen Seufzer verdient die Erde.
Schmerz und Langeweile ist unser Sein und Kot
Die Welt - nichts Andres. Beruhige dich."
G. Leopardi (1)

 

Diese ennuistisch anmutende Erkenntnis Giacomo Leopardis, die Friedrich Nietzsche auch dem überhistorischen Menschen zuschreibt, drückt - gewiss: allegorisch - das aus, was Nietzsche selbst in seinen "Unzeitgemäße(n) Betrachtungen" ausführt: "Das Vergangene und das Gegenwärtige ist Eins und dasselbe, nämlich in aller Mannigfaltigkeit typisch gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werte und ewig gleicher Bedeutung." (2) Wenn dem tatsächlich so ist, so ist die Frage, wozu die Beschäftigung mit der Geschichte dient, sprich welchen Nutzen die Geschichtswissenschaft hat, schnell beantwortet: Sie wäre "eine Art Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit." (3) Denn ist ein historisches Phänomen einmal vollständig erkannt, so Nietzsche, wird es für den Erkennenden uninteressant. Wozu also eine Wissenschaft, die sich dem Ewig-Wieder-kehrenden und Typisch-Gleichen widmet?
Was Nietzsches Standpunkt in gewisser Weise bereits zu widerlegen scheint, ist die Tatsache, dass Aufgabe und Funktion der Geschichte als Wissenschaft vom frühen 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein unter dem Stichwort "Historismus" stets Gegenstand kontroverser Erörterungen waren und bis zum heutigen Tage geblieben sind. Zu fragen bleibt dann allerdings doch, ob es nicht berechtigt scheint, in Nietzsches umfassender Analyse "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" den Endpunkt solcher Unterfangen besiegelt zu sehen, indem sie nämlich bereits die schlichte Einsicht vorwegnimmt, dass Geschichte aufgrund ihrer "Lebensfeindlichkeit" nie reine Wissenschaft werden könne und solle. (4) Genau um diese Frage dreht sich jedoch die gesamte Diskussion von je her.


1. Die Grundlagen des Historismus

Die Versuche, seit dem frühen 19. Jahrhundert die methodologischen, aber auch ontologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft zu legen, erscheinen im Rückblick als die Ausprägung einer "modernen" Art des historischen Denkens. Dies vor allem in der akademischen Forschung, durch die sich Geschichte als Fachwissenschaft im 19. Jahrhundert erst auszubilden beginnt. Zum einen stellen sich diese Versuche als methodische Professionalisierung der Historiker dar, zum anderen aber auch als theoretische Grundlegung der Geschichtswissenschaft als Fachdisziplin an den Universitäten (5), wie sie in Johann Gustav Droysens "Historik" (6) ihren prominenten Ausdruck gefunden hat. Diese Versuche fallen in eine Zeit der grundlegenden Krisenerfahrungen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse (7), die neue Orientierungsmöglichkeiten und zugleich ein historisches Bewusstsein auszubilden helfen sollten. Dass allerdings nach wie vor ein Konsens darüber aussteht, was genau unter "Historismus" zu verstehen sei, mag daran liegen, dass er als Bewegung alle Geisteswissenschaften betraf und als Begriff stets vielfältig benutzt wurde. Sowohl Leopold von Rankes Objektivitätsideal8 als auch Droysens historische Methode lassen sich darunter fassen. Die "Historische Rechtsschule" Savignys fand darin seinerzeit ebenso ihre Bezeichnung, wie auch die zunächst banal anmutende deskriptive Verwendung des Begriffs als Erkenntnisverfahren, durch das der Mensch, seine Werte und Normen, aber auch Institutionen und Werke als geschichtlich geworden und vermittelt aufgefasst werden, bestehen blieb (Wilhelm Dilthey). Historismus wird somit sowohl als Traditionsbewahrer als auch als Fortschrittsglaube gedeutet, gilt den einen als reaktionär, den anderen hingegen als revolutionär. Es darf jedoch mit Recht behauptet werden, dass unter allen Definitionsansätzen diejenigen Ernst Troeltschs und Friedrich Meineckes9 zum Ausgangspunkt für weitere Erörterungen gemacht werden dürfen.


Diese Mehrdeutigkeit des Begriffs "Historismus" kann lediglich darauf hindeuten, dass es sich beim Historismus mit einem komplexen Phänomen handelt, das sich nicht ohne Weiteres definieren lässt. Diese Schwierigkeit kommt auch in der Diskussion über den Historismus, die zu Beginn der 1970er Jahre entfacht wurde, zum Ausdruck, in der eher die Kritik an diesem Begriff statt das Bemühen, ihn überhaupt erst präzise zu erfassen, vorherrscht. Thomas Nipperdey (1927-1992) hat in diesem Zusammenhang treffend formuliert, dass "nicht mehr, wie zur Zeit Troeltschs, die Krise des Historismus, sondern die Kritik des Historismus dominiere. (10) Dies mag damit zusammenhängen, dass er durch die weitere Entwicklung der Geschichtswissenschaft von vielen Historikern zu dieser Zeit als überwunden angesehen wurde und es sich in der Auseinandersetzung nur noch darum handelte, wie man zu besseren Erkenntnisverfahren gelangen könne. Es steht jedoch fest, dass der Historismus bei allen gegensätzlichen Fortführungen sowohl als Wissenschaftskon-zeption als auch als methodisches Verfahren Entscheidendes für die Klärung des Selbstverständnisses der historischen Zunft geleistet hat. Ebenso wenig ist von der Hand zu weisen, dass die Reflexion über den Historismus Ausdruck einer Krise ist, in der sich die Geschichtswissenschaft befindet, was allein das fortwährende Hinterfragen - interessanterweise vorwiegend innerhalb der Zunft selbst - von Relevanz und Legitimation historischen Arbeitens belegt.


Es scheint, wie Thomas Nipperdey 1975 richtig bemerkte, dass "bestimmte Richtungen der Geschichtswissenschaft das, was sie an deren Tradition nicht mögen, Historismus nennen, und dass Historismus so zu einem bloßen polemischen Feind- oder Abgrenzungsbegriff wird, der kaum noch analytische Bedeutung hat...". (11) Die Bewertung der Historismus-Diskussion (12) verdeutlicht, dass es sich im Grunde um eine Kritik an der Relativierung von Werten und Handlungsnormen, die durch die Historisierung des Denkens verursacht werden, handelt. Diese Kritik zielt daher nicht selten darauf ab, den Historismus auf diesem Wege für obsolet zu erklären und statt dessen "bessere" Erkenntnisverfahren, d. h. aber häufig auch die "bessere" Erkenntnis durchzusetzen. Es ist Thomas Nipperdeys Verdienst, diese Diskussion um Bedeutung und Berechtigung des Historismus Mitte der 1970er Jahre wieder in neue und diesmal strukturiertere Bahnen gelenkt zu haben, mit der Absicht den Begriff des Historismus auf seine "ursprüngliche" Bedeutung (falls es eine solche je gegeben hat) zurückzuführen und ihn somit zu "rehabilitieren".
Auch Nipperdey geht es letztlich um die Suche nach der besseren Erkenntnis. Er versucht sie über die Nutzbarmachung der Methodologie des Historismus zu finden. Dessen methodischen Ansatz begreift er dabei als Strukturgeschichte. Nipperdey selbst formuliert seinen Anspruch als den Versuch, "zu einem genaueren Begriff von Historismus beizutragen." (13) Dieser findet sich theoretisch ausformuliert am ausführlichsten in seinem 1975 geschriebenen und ein Jahr später veröffentlichten Aufsatz „Historismus und Historismuskritik heute" mit dem Untertitel "Bemerkungen zur Diskussion", in dem er sich ausschließlich mit der Debatte der Historiker befasst. (14) Zugleich leistet dieser Aufsatz die vermutlich erste mehr oder weniger systematische Erfassung der Kritikpunkte, die in der neueren Diskussion gegen den Historismus vorgebracht wurden. (15) Dass es Nipperdey hierbei allerdings um mehr als nur um "Bemerkungen zur Diskussion" geht, wird dem aufmerksamen Leser spätestens bei der Auflistung seiner "Ansätze zur Neuinterpretation" deutlich. Der Anspruch liegt also eindeutig bei letzterem und er soll dazu dienen, den Begriff des Historismus somit für die Wissenschaft und Forschung wieder fruchtbar zu machen.


Nicht zufällig fällt dieser Versuch eines Neuansatzes in eine Zeit der Diskussion über die Kontinuität der deutschen Geschichte, in der "die Linke" (wohl kaum in toto) den Angriff auf den Historismus als am Status quo orientierte und herrschaftslegitimierende Ideologie bereits eröffnet hatte.16 Nipperdeys Bemühen, sich selbst von diesen Positionen abzugrenzen und ihnen gegenzusteuern, wird in verschiedenen seiner Schriften, auf die ich mich beziehen möchte, deutlich. Ich werde mich hier vor allem mit der Frage beschäftigen, ob bzw. wie es Nipperdey gelingt, den Begriff des Historismus für eine Theorie der Geschichte bzw. der Geschichtserkenntnis wieder fruchtbar zu machen. In dieser Hinsicht erscheint es sinnvoll, Nipperdeys "Übersetzung" des Historismus für eine heutige Methodologie der Geschichtswissenschaft, seinen Funktionsbegriff von Geschichtswissenschaft, die Frage der Relevanz und schließlich das Problem des Werterelativismus in seinen Schriften zu analysieren. Dabei werde ich die Positionen der Kritiker des Historismus in meine Ausführungen über Nipperdeys Standpunkte mit einfließen lassen.


2. Die "Enthistorisierung" des Historismus und Nipperdeys Neudefinition

Eine der Hauptforderungen Thomas Nipperdeys in diesem Versuch einer Neuinterpretation bestand darin, die Historismus-Diskussion zu enthistorisieren, um damit zu einer Lösung des "Historismus-Problems" beizutragen. (17) Die Tatsache, dass Nipperdey die Notwendigkeit gesehen hat, den Historismus aus seinem Entstehungs- und Funktionszusammenhang zu lösen, und ihn so aus dem Kontext des deutschen Idealismus Hegelscher Prägung herauslösend neu zu "übersetzen", deutet auf die Wichtigkeit seines Tuns für die Diskussion um eine Theorie der Geschichtswissenschaft hin: um ihn so wieder aus seiner logischen Anfangssituation her begreifen zu können und zum "ursprünglichen" Begriff von Historismus zurückzufinden. Nipperdeys Beitrag für die Wissenschaftsgeschichte des Historismus und für dessen Aktualisierung im Wissenschaftsbetrieb stellt sich somit auch als Erörterung der Grundfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit historischer Erkenntnis dar. Die Relevanz dieser Anfang der 1970er Jahre einsetzenden Gesamtdiskussion zieht Otto Gerhard Oexle allerdings dadurch in Zweifel, dass er ihr im Für und Wider der Argumente letztlich ein Festhalten am Historismus-Begriff Meineckes attestiert, das damit alle älteren Ansätze und Kritikpunkte ausklammere. Eigentlich gehe es bei diesem Historismus-Streit nur noch um eine Auseinandersetzung um Rankes Art der Geschichtsschreibung. (18)  Nipperdeys Ansatz liegt dabei eher zwischen den gegensätzlichen Polen der Debatte: sein Historismus-Begriff sei letztlich eine Synthese aus Meineckes Historismus-Begriff und demjenigen Troeltschs. Zugleich macht Nipperdey in seinem Aufsatz über den Historismus durch eine Kritik an der Diskussionsweise auch auf die Gefahr der Verengung des Historismus-Begriffs aufmerksam. (19) So lässt sich sein Ansatz als eine Verbindung aus Syntheseleistung und Erweiterung des Begriffs "Historismus" verstehen, indem die Individualitätskategorie zum Strukturbegriff ausgedehnt wird. Der methodische Ansatz des Historismus erscheint in Nipperdeys Neuerörterung daher als Strukturgeschichte.


Meinen Erörterungen möchte ich zunächst Nipperdeys eigene Definition des Historismus voranstellen. Er sieht darin "die große geistige Bewegung, in der im 19. Jahrhundert die historischen Wissenschaften im modernen Sinne neu begründet worden sind". Diese Neubegründung beinhalte die Formulierung der historischen Methode (mit der Quellenkritik und dem Zugriff des "Verstehens" als dessen Instrumente), mit deren Hilfe "Individualität" und "Entwicklung" von Vergangenem aufgezeigt werde.20 Zudem handele es sich beim Historismus, wie Nipperdey in seiner "Deutschen Geschichte" weiter ausführt, um eine "wachsende Hinwendung zur Vergangenheit" bzw. "die Interpretation der Welt als Geschichte". Damit beginne sich die Erkenntnis von der historischen Bedingtheit des Menschen, aller seiner Institutionen, Lebensformen und Werte allmählich durchzusetzen. Und als drittes seien damit ganz unmittelbar auch neue Wertungen und Normen verbunden, ja sogar die Rechtfertigung von Normen. Damit trage die Geschichtswissenschaft in dieser Entstehungszeit wesentlich zur Identitätsbildung und -stiftung bei. (21)
Die ersten beiden Punkte dieses Definitionsversuchs deuten bereits auf eine Synthese von Meineckes und Troeltschs Ansätzen hin. In Nipperdeys Interpretation macht also sowohl die Historisierung des Denkens als auch die Erkenntnis von der Individualität und Entwicklung einer jeden Epoche den Historismus aus. Der dritte Punkt, der auf die Entstehung von Werten und Normen hinweist, ist der Versuch, die Kritik am Historismus in die Definition mit hinein zu nehmen. Hier wird der Vorwurf der Kritiker, der Historismus habe Ende des 19. Jahrhunderts als Instrument einer politischen Ideologie gedient, positiv umgedeutet im Sinne nicht mehr einer Funktionalisierung, sondern einer Begleiterscheinung. Lediglich das Wort "Rechtfertigung", das Nipperdey in diesem Zusammenhang verwendet, deutet auf den funktionalen Charakter, auf den die Kritiker aufmerksam machen wollten, hin.


Den Anstoß, in die Diskussion nun neu einzusteigen, greift Nipperdey aus der unbefriedigenden Debatte der Historiker zu Beginn der 1970er Jahre. Er bemängelt, dass häufig nur die Kritiker des Historismus das Feld beherrschten, wohingegen dessen Verfechter und Fürsprecher sich damit begnügten, sich lediglich in der Praxis statt in der Grundlagenreflexion der Geschichtswissenschaft zu behaupten.22 Sein Beitrag darf in diesem Kontext also als ein Ausfüllen dieser Theorielücke verstanden werden. Dabei geht es Nipperdey darum, den Begriff des Historismus zu präzisieren, nicht jedoch eine Gegenideologie zur kritischen Schule zu entwerfen. Allen ins Feld geführten Definitionen hält Nipperdey sein Verständnis von Historismus zuerst und vor allem als Methodologie der Geschichtswissenschaft entgegen. Er betont an anderer Stelle die revolutionäre Leistung des Historismus, "alles Seiende zu verflüssigen, als entstanden, sich wandelnd und darum auch vergehend und veränderbar darzustellen (23) und macht damit auf die Historizität alles Gegenwärtigen aufmerksam. Das revolutionär Neue sei "die geschichtliche Auffassung der menschlichen Welt und Gegenwart". Die Geschichte als "große(r) Strom der bewegten Zeit" verdränge im späten 18. Jahrhundert die einzelnen Geschichten "von etwas". (24) Nipperdey betont hierbei, dass der Historismus durchaus dazu in der Lage sei, einen Bezug zur Zukunft herzustellen, ohne jedoch - und das sei dessen großes Verdienst - einen Absolutheitsanspruch der Gegenwart dadurch geltend zu machen. Er leiste somit der Geschichtswissenschaft den Dienst, sich "ohne gewollte perspektivische Verzerrung und gegenständliche Verkürzung der Vergangenheit als Vergangenheit" (25) zuzuwenden und somit zur "Relativierung gegenwärtiger Absolutheitsansprüche an die Zukunft" beizutragen.


Nipperdeys Erörterungen des Historismus für die heutige Zeit orientiert sich an verschiedenen formalisierten Postulaten, die er für eine Fortführung der Diskussion als notwendig erachtet. Schließlich formuliert er einige Ansätze zur Neuinterpretation sogenannter "historischer" Kategorien in methodologischer und - wie er betont - gegenwartsbezogener Absicht. (26) Diese Forderungen für eine sinnvollere Diskussion leitet er aus der Vagheit und Widersprüchlichkeit der Historismus-Diskussionen als solcher, aber auch aus der Notwendigkeit, die traditionellen Methoden und Fragestellungen der Geschichtswissenschaft den modernen Problemen der Wissenschaft anzupassen, ab. Nipperdey betont, dass es sich hier um einen "Traditionsbruch" handele.27 Zunächst erscheint es ihm wichtig, dass die Kategorien und Begriffe, wie z. B. „Individualität“, „Entwicklung“, „Geist“, „Verstehen“, „Leben“ und "das Irrationale", aus der sprachlichen Fassung der Väter und Großväter für die heutige Zeit übersetzt werden müssen, damit die Geschichte des Historismus wieder "lesbar" werde. Mit dieser Forderung, die Diskussion des Historismusproblems zu "enttraditionalisieren", geht auch die nach einer "Enttheoretisierung" der Debatte einher: Nipperdey meint hier vor allem die starke Orientierung an theoretischen Aussagen Rankes oder Droysens, denen in der Auseinandersetzung mit dem Historismus zu viel Gewicht beigemessen werde. Vielmehr müsse man die Arbeiten und Darstellungen selbst analysieren, um darüber die Widersprüche aufzuzeigen, die zwischen explizierten Theorien und den im Tun implizierten Voraussetzungen bestehen. Mit der Forderung nach Enttheoretisierung ist hier also gemeint, Theorie und Praxis bei aller Verflochtenheit klar voneinander zu unterscheiden. (28)


Sodann müsse die Diskussion "entspezialisiert" werden. Nipperdey ruft hier in Erinnerung, dass sich die historistische Bewegung auf alle Geisteswissenschaften erstreckt hat. Die Gefahr, die dagegen in der heutigen Debatte bestehe, liege darin, dass zum einen der Blick lediglich auf die objektivierten Kulturphänomene (Kunstwerke, Sprache, Recht, Philosophie) verengt werde und die soziale, politische und ökonomische Welt dadurch zurücktrete. Zum anderen bedeute aber auch die Verengung auf die Politikgeschichte, wie sie Ranke, Treitschke und die Neorankeaner vertreten hätten, eine ebensolche Verkürzung des Historismus-Begriffs. Ein geschichtlich und wissenschaftslogisch legitimer Begriff von Historismus könne dagegen nur gewonnen werden, wenn man die "eigentliche Historie" und die anderen Geisteswissenschaften zusammensehe. Die "Verkümmerungen", die sich in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hätten, könnten nicht zum Ausgangspunkt der Erörterung gemacht werden. (29)
Ein weiteres Postulat formuliert Nipperdey, indem er fordert, die Diskussion zu „entnationalisieren“, da Historismus zu häufig als deutscher Historismus gelte. Auch wenn hierfür gute Gründe in der älteren Tradition, die sich vom Naturrechtsdenken Westeuropas abgrenzen wollte, zu sehen seien, so dürfe nicht vergessen werden, dass der Historismus die gesamte wissenschaftliche Welt des Westens, zum Teil auch des Ostens, beispielsweise in Russland, durchdrungen habe. Erst die Einbeziehung der Entwicklung in anderen Ländern ermögliche die Überprüfung von ideologischen Thesen über die politischen und Status quo Implikationen dieses historischen Ansatzes. (30)


Mit der eingangs bereits erwähnten Forderung nach "Enthistorisierung" bzw. "Entsoziologisierung" geht auch das Postulat, sich bei der Erörterung des Historismus nicht an der Wissenssoziologie, sondern an der Wissenschaftstheorie zu orientieren, einher. Nipperdey betont hierbei, dass es auf die Logik einer Wissenschaft ankomme, nicht jedoch auf ihre Soziologie, also ihren Entstehungs-, Wirkungs- und Funktionszusammenhang. Zur wissenschaftslogischen Kritik am Historismus gehöre nicht die Frage, welche politischen Implikationen er möglicherweise beinhalte, sondern ob und wie er dazu in der Lage sei, Vergangenheit besser zu erkennen als mit Hilfe anderer Methoden - daher Nipperdeys konsequente Forderung, die methodologische Frage ins Zentrum der Diskussion zu rücken. Diese Forderung nach Enthistorisierung impliziert den Versuch, die Diskussion zu „entpolitisieren“. Hier stellt Nipperdey insbesondere auf die Frankfurter Schule à la Horkheimer und Adorno ab, die die Kritik an der Vergangenheit zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft machen wollten. Nipperdey betont, dass diese vornehmlich von Jürgen Habermas vertretene These einer materialen Geschichtsphilosophie für die Frage nach logisch-methodologischen Grundlagen zur besseren Erkenntnis geschichtlicher Vergangenheit nicht weiterführe.
Darüber hinaus fordert Nipperdey die Diskussion zu „entontologisieren“, d.h. sie von den Problemen einer materialen Geschichtsphilosophie zu lösen, also Methodologie und Fragen nach Sinn und Ziel des Geschichtsprozesses voneinander zu trennen. Indem die ontologischen Probleme von den methodologischen geschieden würden, könne man sich sowohl dem Prozess der Erkenntnis als auch der Suche nach besserer Erkenntnis zuwenden. (31)


In diesem Sinne darf auch seine letzte Forderung verstanden werden, die nach "Entmythologisierung" bzw. "Entidealisierung" des Historismus. Das idealistische Weltbild des Historismus, das für uns ein vergangenes sei, müsse neu gedeutet werden, indem der Historismus wieder aus der Logik seiner Anfangssituation her begriffen werde. Konkret bedeutet dies die Zuwendung zu den Problemen der Historiographie um 1800, um sie jenseits der idealistischen Ontologie auf reale methodische Probleme zu beziehen.32 Darin besteht letztlich die Übersetzungsleistung, die Nipperdey vollzieht.


2.1. Nipperdeys Ansätze zur Neuinterpretation

In seiner Neuinterpretation wendet sich Nipperdey sechs als historistisch definierten Kategorien zu. Dies sind die Kategorie des "Geistes", der "Individualität", der "Kausalität", der "Objektivität", des "Verstehens" und der "Erzählung". Hierbei geht es Nipperdey darum, diese auf ihre "ursprüngliche" Bedeutung zurückzuführen, um sie durch ein präziseres Verständnis von Historismus für die heutige Wissenschaftspraxis fruchtbar zu machen. Die frühe historistische Bedeutung der Kategorie "Geist", die ursprünglich als korrektive Funktion zur dominierenden Kausalität vielmehr auf die Interdependenz verschiedener Elemente und Faktoren in einer historistischen Situation habe verweisen wollen, deute auf logisch-methodische Probleme hin, die heute noch aktuell seien.33 Die Kategorie der Individualität habe hingegen zunächst einen polemisch-kritischen Sinn gehabt, mit dessen Hilfe die Historisten im Gegensatz zu einem verkürzten Individualitäts-Begriff und den Atomismus der Aufklärung auf die Universalität und Totalität des Menschen aufmerksam machen wollten. Schließlich sei diese Kategorie auf Epochen, Gesellschaften und Kulturen übertragen worden.  In Nipperdeys Neuinterpretation wird diese Ausweitung weitergeführt: im Individualitätsprinzip sei das eingegangen, was wir heute als "Struktur" bezeichneten. Beispielsweise könne man den Begriff "Volk" in älteren Texten heute durch "Gesellschaft" oder "Struktur" ersetzen. Auch in Hegels zentraler Kategorie des "objektiven Geistes" sieht Nipperdey einen politisch-sozialen Strukturbegriff formuliert, der zum Ansatz aller historistischen Historiographie geworden sei. Dies äußere sich in ihrer Betonung der überindividuellen Tendenzen und der Sachlogik von Institutionen. Damit gehe der Historismus weit über die Analyse von "bloß" subjektivem Bewusstsein der Handelnden hinaus. Nipperdey betont für seinen Ansatz der Neuinterpretation nun, dass die Erkenntnis heute über den individualisierenden Ansatz des Historismus mit Recht noch weiter hinausgegangen sei bis hin zur Einbeziehung von Komparatistik, Typus und Generalisierung. (34)


Überdies müsse das Verhältnis von Historismus und Kausalität neu interpretiert werden. Der historistische Ansatz gehe von der Abwehr bestimmter Erklärungsmodelle aus. Diese seien zum einen solche, die zweckrationale oder leidenschaftsbestimmte Motive der Handelnden betonten, dann jene, die nur eine Ursache zugrunde legten und schließlich diejenigen, welche eine begrenzte Summe angebbarer Ursachen bei Eindeutigkeit eines angebbaren Verursachungsprozesses für die Erklärung heranzögen. In diesem Zusammenhang richteten sich „Individualität“ und „Entwicklung“ gegen diese älteren Kausalitätsmodelle, indem sie also die Interdependenz und die Fülle der Kausalitäten, der Institutionen, des Unbewussten, des objektiven Geistes und der Sozialstruktur geltend machten. Aus dieser Sicht könne man die kausale Analyse rehabilitieren, ohne die Errungenschaften der historistischen Methode und ihre korrektive Funktion preiszugeben. (35) In Bezug auf das Objektivitätspostulat des Historismus betont Nipperdey, dass es sich gegen die moralische und pädagogische Indienstnahme der Historie sowohl von einem herrschenden als auch dem entgegengesetzten Standpunkt aus gewandt habe. Damalige apologetische Tendenzen seien jedoch keine Folge des Objektivitätsideals gewesen. Dieses habe sich gegen eine Mediatisierung der Vergangenheit gerichtet, deren Erkenntnis durch jene verhindert worden sei. In diesem Zusammenhang sei Rankes methodisches Postulat nach wie vor aktuell, da heute wieder die Gefahr der Mediatisierung der Vergangenheit bestehe, bei der diese selbst nicht mehr zur Geltung zu kommen drohe. Die Frage nach der Kontinuität der Weltgeschichte und der Tradition von einem zu begreifenden Phänomen der Vergangenheit bis zur Gegenwart des Forschers sei damit jedoch noch nicht beantwortet.


Das historische Verstehensprinzip sieht Nipperdey in engem Zusammenhang mit dem Mediatisierungsproblem. Es schreibe die Regel fest, "Vergangenheit aus ihren eigenen Voraussetzungen zu begreifen". (36) Diesem Prinzip zufolge werde nicht immer nur nach Kausalitäten gefragt, sondern nach dem Sinn und der Bedeutung von Äußerungen. Und schließlich gehe es dieser Methodologie darum, den Auslegungshorizont der Handelnden mit ins Begreifen einzubeziehen. Während die spätere, "verkümmerte" Auffassung dieses Prinzips auf das Selbstbewusstsein der Handelnden abgezielt habe, sei es dem "ursprünglichen" Historismus nicht um den subjektiv gemeinten Sinn, sondern um den in Traditionen und sozialen Institutionen eingelagerten, objektivierten, unbewussten Sinn, um die Selbstverständlichkeiten der Handelnden gegangen. In diesen methodischen Bezügen habe das "Verstehensprinzip" heute noch eine Funktion darin, offen zu halten, dass die menschliche Lebenswelt neben Arbeit und Herrschaft auch aus Sprache bzw. kommunikativer Vernunft (Jürgen Habermas) konstituiert sei. Durch die Fortführung des historistischen Ansatzes lasse sich das Verhältnis von politischer Geschichte, Geistesgeschichte und Sozialgeschichte somit zureichend lösen. Und schließlich sei es die ursprüngliche Funktion der historistischen Orientierung an Anschauung, Beschreibung und Erzählung im Gegensatz zu Begriff und Analyse gewesen, die „Phänomene“ gegenüber abstrakten Begriffsbildungen zu retten. Hier macht Nipperdey das einzige Eingeständnis an die gegenwärtige Entwicklung: dieses Element, das er jedoch nicht als notwendigen Bestandteil der historistischen Methodologie ansieht, sei überholt. Damit sei allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Erzählung und Analyse (oder Theorie) noch nicht abschließend beantwortet. (37)


3. Nipperdeys Funktionsbegriff von Geschichtswissenschaft und die Frage der Relevanz

Nipperdey beantwortet die Frage nach der Legitimation von Geschichtswissenschaft in positivem Sinne, nämlich der Aufklärung der Erinnerung, die zugleich "irrationale Legenden" abzuwehren helfe, zu dienen.38 Ein weiterer Anspruch Nipperdeys als Historiker besteht darin, die Zukunft der Vergangenheit offen zu halten bzw. der Vergangenheit ihre offene Zukunft zurückzugeben. Demnach besteht eine Funktion der Geschichtswissenschaft darin, der Wirklichkeit näher zu kommen, indem sie Zukunft offen hält, also nicht deterministisch betrachtet und dadurch Absolutheitsansprüche möglicher Zukunftsperspektiven einer Gesellschaft relativiert. (39) Der Begriff der Wirklichkeit bei Nipperdey impliziert einen Anspruch auf Objektivität insoweit, als dass durch Überprüfung der Quellen, die Berücksichtigung von Vorgeschichten und vielfältigen Kontinuitäten, aber auch von deren begrenzter Gültigkeit, die eigene Perspektive relativiert werden kann. (40) Diesen Funktionsbegriff von Geschichtswissenschaft möchte Nipperdey jedoch nicht als ihren eigentlichen Sinn und Zweck missverstanden wissen. Die Sinnfrage liege jenseits einer logisch-analytischen Reflexion. Vielmehr werde durch die Zuwendung zur Vergangenheit diese oben genannte Funktion erst erfüllt. Sinn und Zweck der Geschichtswissenschaft ließen sich allenfalls in einer Diskussion, die Voraussetzungen und Konsequenzen verschiedener Positionen plausibel mache, ermitteln, jedoch nicht ein für allemal entscheiden.41 Letztlich ergebe aus dieser Sicht auch die Relevanzfrage in Bezug auf das untersuchte Material keinen Sinn mehr, da die Offenheit der Geschichte immer die Möglichkeit eines anderen „Endes“ impliziere und somit zwischen Relevantem und Irrelevantem ohnehin nicht geschieden werden dürfe. Was relevant ist, wird demzufolge nur noch über die Frage, was zur Offenheit der Geschichte zählt, entschieden. (42)

Da die Frage nach der Relevanz geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis immer auch den Vorwurf des Selbstzwecks bereits impliziert, wendet sich Nipperdey diesem Komplex gesondert unter dem Gesichtspunkt zu, wie sich die Historie noch in heutiger Zeit behaupten und legitimieren kann. Auch hier rekurriert er auf die Leistung des Historismus, dessen Tradition, die Gegenwart als eine Gewordene darzustellen, in der Vergangenes wirkmächtig sei, dazu beigetragen habe, dass heute Einigkeit über die Frage nach dem Zweck der Geschichtswissenschaft in Bezug auf gesellschaftliches Handeln bestehe. Sie biete nämlich durch die Aufhellung der Gegenwart Handlungsorientierungen: "Die Erkenntnis der Gegenwart ist auf die Geschichte angewiesen. Und auch über die Möglichkeit der Zukunft orientiert gerade und vornehmlich der Rückgriff auf die Geschichte." (43) Und an anderer Stelle genauer: "...darum ist der Versuch, der zu den Voraussetzungen unseres Lebens gehört, an die Geschichte verwiesen. Die Geschichte dient der für das Handeln notwendigen Aufhellung der Gegenwart." (44) Nipperdeys Auseinandersetzung mit der Frage der Relevanz kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sie im Prinzip für obsolet erklärt, indem diese die Forderung, gesellschaftliche Relevanz in den Mittelpunkt geschichtswissenschaftlicher Forschung zu stellen, impliziere: "Wer von Relevanz heute spricht, fragt nicht nur, sondern er fordert Relevanz." (45) Welcher Relevanzbegriff dabei auch zugrunde gelegt wird, immer werde davon ausgegangen, dass menschliches Interesse an der Vergangenheit mit dem Interesse an Gegenwart und Zukunft notwendig zusammenhänge. Für Nipperdey stellt sich diese Beziehung weniger unmittelbar dar, als es die Vertreter der Relevanzforderung behaupten, da zum einen zwischen der Genese einer These, d.h. den Interessen des jeweiligen Historikers, und der Geltung von Wahrheit beanspruchenden wissenschaftlichen Thesen und Ergebnissen, unterschieden werden müsse. Entscheidend sei also nicht das von bestimmten Interessen und Weltanschauungen des Historikers geleitete Auswahlprinzip (dessen Existenz Nipperdey als solches nicht bestreitet), sondern die Verpflichtung, sich jenseits der an der Praxis orientierten Normen dem Ideal der Objektivität zu verschreiben. (46)
Funktion der Wissenschaft kann es nach Nipperdey daher nicht sein, die Frage zu beantworten, wie wir handeln sollen. Sie kann allenfalls darüber aufklären. In diesem Sinne möchte Nipperdey die Geschichtswissenschaft der Aufgabe enthoben wissen, moralisierende politische Pädagogik zu betreiben bzw. politisch-moralische Wertordnungen zu stabilisieren. (47) Das hier bereits angeschnittene Problem des Werterelativismus erweist sich als Hauptmerkmal in der Historismus-Diskussion. Annette Wittkau stellt fest, dass „in der Auseinandersetzung mit dem Historismus durchgehend mit der Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und Werterkenntnis sowie mit dem Problem der Relativierung der Werte durch geschichtswissenschaftliche Erkenntnis gerungen wird." (48)


4. Die Frage des Werterelativismus im Zusammenhang mit Nipperdeys Erörterung des Historismus

Die Diskussion über den Werterelativismus, der in den Augen der Historismus-Gegner durch die Historisierung des Denkens entsteht, hat sich häufig um das Begriffspaar "Wissenschaft" oder "Leben" zentriert. Es wurde dabei entweder ein unaufhebbarer Gegensatz festgestellt (Meinecke), eine Synthese versucht (Troeltsch) oder beide Begriffe wurden als zwei in polarer Spannung nebeneinander bestehende Bereiche definiert (Weber). (49) Nipperdey stellt sich diesem Problem, indem er eine klare Absage an die Indienstnahme der Wissenschaft für praktische Fragen der Gesellschaft formuliert. Damit gerät er in die Nähe Meineckes, der in seiner Kritik an Troeltschs "Kultursynthese" feststellte, dass die Wissenschaft dem Leben nicht unmittelbar, sondern mittelbar zu dienen habe und dies umso wirksamer tun könne. (50) Nipperdey stellt ebenfalls einen solch mittelbaren Bezug zwischen Wissenschaft und Leben her, indem er der Historie als Wissenschaft die Aufgabe zuweist, "das Fragwürdige, das Nichtgewusste und Nichtwißbare" (51) bewusst zu halten, d. h. also all jene Schattenbereiche, die eine "kritische Geschichtswissenschaft" Nipperdey zufolge eher auszublenden geneigt sei, da sie stets nach der "Erziehungsfunktion der Historie", und das heiße immer auch nach klaren Geschichtsbildern schiele. Zudem könne erst die Erkenntnis, die von ihrer praktischen Verwendbarkeit absieht, ohne sie zu vergessen, der Praxis einen wirklichen Dienst erweisen. Aufgabe der Historiker sei es vorrangig, sich der Idee der Objektivität zu verpflichten, nicht jedoch das Interesse an der Praxis zur Norm geschichtlicher Erkenntnis zu erheben.

Ganz anders noch gelingt es Nipperdey, sein eigenes Verständnis von Handlungsmöglichkeiten zu entwerfen. Indem die Geschichte den Spielraum des Möglichen durch Kritik an Handlungsprogrammen aus historischer Erfahrung begrenze, biete sie gleichzeitig eine Grundlage für das Handeln: und zwar eine, die nicht mehr ideologische politische Pädagogik betreibe, sondern eine unideologische Möglichkeit für das Handeln begründe. Diese Möglichkeit widersetze sich dem "Auswählen" dessen, was aus der Geschichte zu lernen sei. Statt dessen ergebe sich das „Lernenkönnen“ aus der Zuwendung zur "Gesamtheit der wesentlichen Phänomene der Vergangenheit". Nipperdey lehnt das „Lernenwollen“ im Sinne der Geschichte als Lehrmeisterin zugunsten eines "Lernenkönnens" als potentieller Implikation historischen Forschens und Erkennens ab, das zugleich die "tiefe Unterschiedenheit von Gegenwart und Vergangenheit, ja der vielen Vergangenheiten" berücksichtige. (52)


5. Die Kritik an Nipperdeys Begriff des Historismus und an seinem Beitrag für eine Theorie der Geschichtserkenntnis

Zunächst erscheint es wichtig, Nipperdeys Beitrag zur Frage nach den Bedingungen für die Möglichkeit historischer Erkenntnis in einen größeren Kontext zu stellen, da diese Diskussion die Geschichtswissenschaft von je her begleitet hat. Sie geht zurück auf Kants Erkenntnistheorie, der zufolge geschichtswissenschaftliche Erkenntnis nicht den Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit genüge, da es in Anlehnung an Newtons Naturphilosophie allen wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen vorrangig darum zu gehen habe, die universellen Gesetze zu entdecken, denen alle empirischen Phänomene unterliegen. (53) Es hat an Versuchen, Kants Erkenntnistheorie mit Hilfe einer Geschichtsphilosophie oder -theorie, die die Eigenart geisteswissenschaftlicher Erkenntnis aufzuzeigen hilft, zu modifizieren, nicht gemangelt. Droysens „Historik“ beispielsweise stellt einen Versuch dar, durch Betonung der Eigenart historischer Wissenschaften ihre theoretischen Begründungsstrategien zu entwickeln. (54) Wilhelm Diltheys hermeneutische Philosophie der Geisteswissenschaften ist ein weiteres Beispiel für den Versuch einer Begründung eines explizit historischen Erkenntnisprinzips bzw. -gegenstands. (55) Auch Max Webers Begriff der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis darf in diesem Zusammenhang verortet werden. (56) Diese Versuche wurden Ende des 19. und an der Wende zum 20. Jahrhundert von der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, dessen prominenteste Vertreter Windelband, Rickert und Lask waren, weitergeführt. Sie implizieren den Anspruch, geschichtswissenschaftliche Erkenntnisverfahren von den naturwissenschaftlichen zu unterscheiden, um somit historisches Arbeiten zu legitimieren. (57)
Diese Bemühungen verdeutlichen, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Historismus zurückführen lässt auf das Ringen um Wissenschaftlichkeit vor dem Hintergrund einer bereits etablierten und in weiten Teilen legitimierten Naturwissenschaft. Dieses Abgrenzungsbedürfnis von den nomothetisch verfahrenden Wissenschaften (Windelband) (58), also jenen die im Gegensatz zu den idiographisch vorgehenden Geisteswissenschaften die Phänomene aufgrund allgemeiner Gesetzmäßigkeiten erklären, darf wohl als Ursache für die Diskussion um Methodologie und Logik der Geschichte als Wissenschaft angesehen werden. Nipperdeys theoretische Ausführungen können als Fortsetzung dieses Ringens um Wissenschaftlichkeit gedeutet werden. Daher verwundert es kaum, dass er der Idee der Objektivität größte Bedeutung beimisst und sich diesem Ideal in seiner eigenen historischen Arbeit verpflichtet sieht. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Frage nach der Objektivität im Hinblick auf Nipperdeys Bemühen, sich von einer "kritischen Geschichtswissenschaft" im Sinne vor allem Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte" abzugrenzen (59), eine zentrale Rolle spielt. Zudem lassen sich Nipperdeys theoretische Ausführungen als Motivation verstehen, wie man durch eine "Rehabilitierung" des Historismus vornehmlich über die Nutzbarmachung seiner Methodologie, zu höherer Objektivität geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis gelangen kann. (60)


6. Schlussbetrachtung

Der eigene Anspruch Thomas Nipperdeys in der Neuinterpretation des Historismus hatte darin bestanden, zu einem genaueren Begriff des Historismus beizutragen. Dies ist ihm nur teilweise gelungen. (61) Zunächst verdient seine Syntheseleistung eine Würdigung, da sie einen Fortschritt gegenüber der in widerstreitende Positionen verstrickten Debatte darstellt. Nipperdeys Neudeutung, die sich zum Teil als Erweiterung versteht, erscheint hingegen weniger als Präzisierung, denn als Verwässerung gegenüber älteren Definitionsversuchen. Die Ausweitung des Individualitätsprinzips zum Strukturbegriff beinhaltet fraglos wichtige Anstöße für eine Theorie der Geschichte. Jedoch wird somit der Begriff des Historismus derart ausgeweitet, dass die Grenzen zwischen verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Ansätzen verschwimmen. Hatten Meinecke und Troeltsch noch klar voneinander unterscheidbare Definitionen des Begriffs "Historismus" vorgeschlagen, denen es im einen Fall um die Charakterisierung einer Epoche ging und im anderen Fall um den Hinweis auf die grundsätzliche Historisierung des Denkens, so wird er bei Nipperdey zur Methodologie der Geschichtswissenschaft schlechthin. Dabei greift er zentrale Elemente des Historismus auf und versucht sie den modernen Bedürfnissen und Ansprüchen der Wissenschaft anzupassen. Das, was Nipperdey mit dem Versuch einer "Rehabilitierung" des Historismus unternimmt, stellt sich bei genauerer Betrachtung als das Bemühen um eine "Rettung" im heutigen Verständnis überkommener bzw. missverstandener Kategorien angesichts einer Entwicklung dar, die die Geschichtswissenschaft zunehmend in Richtung einer auf Analyse und Erklärung, denn auf Erzählung und Beschreibung abzielenden Wissenschaft drängt. Auch solch ein Anliegen hat in den modernen Debatten seine Berechtigung, indem es einer drohenden Verflachung entgegenzuwirken versucht. Ob hierin allerdings notwendigerweise die höhere Objektivität begründet liegt, erscheint zweifelhaft. Denn der Vorwurf des Ideologieverdachts, den Nipperdey an die Vertreter der kritischen Geschichtswissenschaft richtet, wird auch in seinem eigenen Bemühen nicht ganz aus dem Weg geräumt. Der Historismus dürfe nicht an seinen politischen Implikationen gemessen werde, lautete eines seiner Postulate. Es erscheint in diesem Zusammenhang jedoch schwierig, den dritten Punkt des Definitionsansatzes Nipperdeys, in dem er anführt, die Geschichtswissenschaft habe in ihrer Entstehungszeit wesentlich zur Identitätsbildung und -stiftung beigetragen, zu akzeptieren. Der Vorwurf der Kritiker lautete vielmehr, sie sei instrumentalisiert worden im Dienst einer politischen Ideologie, der sich nicht wenige Historisten im Namen der „Nation“ zu dieser Zeit verschrieben hatten. Vor diesem Hintergrund erscheint es verharmlosend, im Hinblick auf die Frage nach geschichtswissenschaftlicher Objektivität die Frage der einhergehenden politischen Implikationen ausklammern zu wollen.


Nipperdeys Formulierung der Funktionsbestimmung von Geschichtswissenschaft ist der Versuch, sich von einer moralisierenden und pädagogisierenden Historie abzugrenzen. Die Alternative, die er darin sieht, Zukunft offen zu halten und der Vergangenheit ihre offene Zukunft zurückzugeben, scheint daran zu scheitern, dass über die Kriterien für die Offenheit der Vergangenheit Dissens besteht. Die "Offenheit der Zukunft" bedeutet im theoretischen Sinne zunächst, dass der Historiker von seinem Standpunkt in der Gegenwart sein Wissen über den augenblicklichen Zustand ausblenden muss, um sich den Ereignissen der Vergangenheit unvoreingenommen widmen zu können. Sie bedeutet aber auch im praktischen und politischen Sinne die Chance der Gestaltungsmöglichkeit, die sowohl von links als auch von rechts beansprucht wird. Diese Offenheit mitzugestalten, können Historiker mit dem Auftrag der "Aufklärung" und in ihrer Rolle als Staatsbürger schwerlich leugnen. Nipperdey spricht in diesem Zusammenhang von den "wesentlichen Phänomenen", denen sich der Historiker zuzuwenden habe. Was diese sind, welchem Auswahlprinzip letztlich auch sie unterliegen und was als unwesentlich gelten darf, bleibt dabei unklar. Hier scheint ein gewisser Widerspruch zu Nipperdeys Vorstellung von der Aufgabe der Geschichtswissenschaft als das Bewussthalten des "Fragwürdigen", "Nichtgewussten" und "Nichtwißbaren" zu bestehen.
In der Frage des Werterelativismus gehen Nipperdeys Ansätze nicht wesentlich über die Max Webers hinaus. Sicherlich müssen sie jedoch vor dem Hintergrund der Debatte mit den Vertretern der "historischen Sozialwissenschaften" gelesen werden. In diesem Licht bietet Nipperdey neue Orientierungsmöglichkeiten bezüglich der Frage der Relevanz und Legitimation von Geschichtswissenschaft. Sein Neuansatz über Handlungsmöglichkeiten erscheint allerdings ausgesprochen vage. Letztlich bleibt hier der Begriff des Handelns verschwommen und bietet keine wirkliche Alternative für einen angemessenen Umgang mit den Kategorien „Wissenschaft“ und "Leben".

Eine Einschätzung der Historismus-Kontroverse seit dem 19. Jahrhundert hinterlässt den Eindruck, dass es einen ursprünglichen Begriff von Historismus nie gegeben hat. Wie Nipperdey zu einem solchen zurückfinden möchte, bleibt auch nach Analyse seiner theoretischen Ausführungen unklar. Was er dagegen leistet, ist eine Klärung historistischer Kategorien, die durch die spätere Wissenschaftsgeschichte verengt und "verkümmert" worden seien. Zweifellos besteht der Vorzug seiner Neuinterpretation des Historismus darin, dass sie dies herausarbeitet und in einen Kontext einbettet, der erklären hilft, warum die Debatte über den Historismus teilweise so groteske Züge angenommen hat. Auch dürfen seine Ansätze als weiterer Anstoß zu einer sinnvolleren Diskussion verstanden werden. In diesem Sinne wäre einer fortzusetzenden Diskussion um eine Theorie der Geschichtserkenntnis sicherlich gedient. Jenseits einer Diskussion darüber, ob der Historismus als Wissenschaftskonzeption obsolet geworden ist, würde hiermit wieder ein Zugang zur Debatte über die Grundsatzfragen der Geschichtswissenschaft ermöglicht.


geschrieben von Devrim Karahasan, 10. Semester (1997)          Dieser Aufsatz wurde am 2. März 2015 von der Autorin redigiert.