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Warum Geschichte?

 

Wer nichts ausrichten kann, soll auch nicht kommentieren.“ Hätte ich diesen Rat eines meiner ehemaligen Professoren beherzigt, hätte ich nie begonnen zu schreiben.

Denn ob immer noch gilt, was Kurt Sontheimer 1989 festzustellen glaubte, nämlich dass „die Demokratie in der Bundesrepublik – nach den leicht hysterisch anmutenden Aufregungen und Erschütterungen der siebziger Jahre – so stinknormal, so kreuzbrav, so routinemäßig [geworden sei], daß es fast schon langweilig geworden ist, über sie zu reden.“, darf im Jahr 2013 getrost bezweifelt werden. Angefangen von den Straftaten der rechtsextremen Verbrecher der NSU und ihrer Sympathisanten, von denen man annimmt, dass es mindestens 129 sind, und der Rolle des Verfassungsschutzes, die offene Frage danach, was die nationale Identität der Deutschen im 21. Jahrhundert ausmacht und was sie unter einer modernen demokratischen parlamentarisch geprägten Gesellschaft mit Verantwortung für Europa verstehen hin zu den Problemen des Terrorismus (Stichwort: Islamisten), des Datenschutzes (Stichwort: Facebook), des Umweltschutzes (Stichwort: Nachhaltigkeit), der Ungleichverteilung des Reichtums (Stichwort: Managergehälter), der Lebensmittelskandale (Stichwort: Dioxin und EHEC) und der unzureichenden Bildung (Stichwort: Pisa), die die soziale Marktwirtschaft nicht befriedigend lösen konnte – dies alles gilt es weiterhin zu bearbeiten und zu hinterfragen.

Der verstorbene Bielefelder Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler, der sich noch nie damit begnügt hatte, nur in die Vergangenheit zu schauen, sondern sich immer auch an aktuellen Debatten beteiligte, machte unmissverständlich klar: „...für die aufklärende Diskussion wie für das praktische Handeln sind möglichst genaue historische Kenntnisse von Nutzen, ja unentbehrlich. Bleibt doch die Geschichte – dies erneut gegen die geläufige Skepsis – das einzige Erinnerungs- und Denkmaterial, aus dem wir lernen können, denn allein Gegenwartskonstellationen und Zukunftsprojektionen reichen dafür nie aus.“ Soweit zu all jenen, die das Studium der Geschichte für nutzlos und einen Selbstzweck halten.

Dass sich die deutschen Intellektuellen selten mit der Bundesrepublik im Einklang befunden hätten, wie Sontheimer beklagt, hatte durchaus nachvollziehbare Gründe, wenn man einmal über den „medialen Einheitsbrei“ hinaus denkt. Denn Sontheimer weist zurecht selbst darauf hin, dass wir „manche alte Nazis besser behandelt haben als deren schuldlose Opfer“. So sehr es geboten scheint, eine sogenannte “Stunde Null“ in Frage zu stellen, so wenig wurden in allen Lebensbereichen die richtigen Lehren aus der Nazi-Vergangenheit gezogen, wenn man noch heute an den widerwilligen Umgang mit Menschen anderer Länder, Asylbewerbern und anderen Zugezogenen denkt, geschweige denn an die Angriffe auf Juden und schwarze Mitbürger hierzulande. Es gilt immer noch der Grundsatz der Duldung vor jenem der Akzeptanz. Es hat sich schmerzlich bestätigt, dass es nicht genügt hat, das Thema „Nationalsozialismus“ in die Lehrpläne der Schulen und Universitäten aufzunehmen, wo es zudem meist auch noch unzureichend und oft mit den falschen Methoden und Anreizen behandelt wurde. Wenn man dann noch daran denkt, dass finanzielle Mittel für Projekte gegen Rechtsextremismus gekürzt wurden bzw. es immer schwieriger wird, welche dafür zu bekommen, wundert man sich eigentlich gar nicht mehr, welchen Wildwuchs es an diesem Ende der Gesellschaft gegeben hat. In vielen Teilen ist dieser Wildwuchs bereits auffällig in die Mitte gerückt, wenn wir uns die Zustände beispielsweise in Ungarn, wo Antisemiten und Rechtsextreme mit Orden und Preisen geehrt werden, vor Augen führen. Und unser Innenminister Hans-Joachim Friedrich von der CSU sagt: „Rechtsextremismus, wie er von Seiten der NPD vertreten wird, hat in unserer Gesellschaft keinen Platz“. Warum sagt er nicht „kein Rechtsextremismus hat in unserer Gesellschaft Platz“, unabhängig von der Parteizugehörigkeit? Das Problem ist nicht die NPD allein, die längst im Niedergang begriffen ist, auch wenn Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund gegenüber 2011 um 4% zugenommen haben. Projekte wie EXIT, die Aussteigern aus der Neonaziszene helfen, den Weg zurück in die demokratische Gesellschaft zu gehen, stehen vor dem Aus und müssen darum kämpfen weitergeführt zu werden, auch wenn es kurzfristig weiter bewilligt wurde. Bildungsangebote gegen Rechtsextremismus sollten aufgestockt werden und Erinnerung wach gehalten werden, nicht nur in Gedenkstätten, aber vor allem auch dort. Ein NPD-Verbot würde vielleicht nicht rechtsextremes Gedankengut tilgen, aber es würde zumindest verhindern, dass unser aller Steuergelder für dessen Propagierung ganz legal eingesetzt werden dürfen, obwohl diese Inhalte ganz eindeutig gegen das Grundgesetz verstoßen, indem sie den Tatbestand der Volksverhetzung und der Leugnung des Holocaust erfüllen, die in unserem Land zurecht unter Strafe stehen. Auch wenn es zum Beispiel alles andere als frevelhaft wäre sich vorzustellen, dass Auschwitz "nur" eine Filmkulisse für die amerikanische Filmindustrie gewesen sein könnte, in der die Deutschen naiverweise einfach mitgelaufen sind, jüdische Mitbürger genauso wie SS-Führer. Und daraus wurde dann bittere Realität mit Riesenprofiten für MGM und andere Filmfirmen. Ein Gedanke, der mir mal in Auschwitz kam, als ich Jeeps vor unserer Jugendherberge parken sah, die offensichtlich noch heute für Filmaufnahmen genutzt werden. Auschwitz - eine Realität, die der menschlichen Phantasie entsprungen ist? Ganz sicher, aber dass es ausgerechnet der Kunstphantasie entspringen musste, schmerzt mich. Aber auch die Kunst bildet nur ab, wozu der Mensch eben alles fähig ist.

Sontheimer erinnert uns daran, dass wir im Grunde „in der Bundesrepublik eine gute Verfassungsordnung [haben], eine die Menschenrechte respektierende pluralistische Demokratie, die beides möglich macht, das erreichte Gute – also Wohlstand, Sicherheit, Freiheit, Lebensqualität – zu bewahren und fortwirkend lebendig zu erhalten und dem vielen Schlechten, das wir vorfinden, zu Leibe zu rücken, auch wenn wir es nie ganz werden beseitigen können.“ Doch was in der Theorie glänzt, muss in der Praxis täglich poliert werden. Aktuell bewegt die Gemüter, wie beispielsweise mit gewaltbereiten islamischen Salafisten umzugehen sei, und ob eine Unterscheidung nach Gewaltbereitschaft aus religiösen oder aus politischen Gründen überhaupt Sinn macht, wie der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach zutreffend in Frage stellt. Dass sich inmitten einer demokratischen Gesellschaft nach der RAF, die selbstverständlich ganz andere Ziele verfolgte, wieder gewaltbereite Fanatiker vermehren, die meistens wie die netten Jungs von nebenan ihrem Alltag nachgehen, muss beunruhigen. Es erinnert daran, dass der Staat seiner Aufgabe des Schutzes der Demokratie, Pluralität und Freiheit nicht gerecht geworden ist. Ja, er hat kläglich vor dieser Aufgabe versagt. Es fragt sich, warum Staatsbedienstete diesen Auftrag nicht ernst genommen haben bzw. ihn so dermaßen unterhöhlen konnten, dass die Verbrechen der NSU noch nicht einmal vollständig aufgeklärt werden können, geschweige denn verhindert werden konnten.

Als Historiker sind wir originär „die Erforscher“ schlechthin. Viele begreifen ihre Aufgabe dabei als allein auf die Vergangenheit gerichtet, so als gäbe es keine Gegenwart geschweige denn eine Zukunft, die wir mitgestalten und über die wir als Bürger nicht nur bei Wahlen abstimmen. Wo es doch in der Gegenwart lauter Themen gibt, die wir historisch analysierend besser begreifen können. Als Zeugen der Gegenwart können wir uns gar nicht von ihr abkoppeln, und können auch gar nicht anders als die Prozesse und Entwicklungen zunächst von ihrem vorläufigen Endpunkt her zu begreifen. Was heute um uns herum geschieht, ist unmittelbar Ergebnis der Geschichte und wir befinden uns mitten in ihr. Jede/r einzelne von uns gestaltet und macht Geschichte, auch wenn ich unser aller Bedeutung nicht übertreiben will, und sie findet nie nur in fernen exotischen Ländern statt wie es so mancher Geschichtsschmöker suggerieren mag.

Die Geschichtsschreiber binden zusammen, was flüchtig vorüber rauscht, und legen es im Tempel der Mnemosyne nieder, zur Unsterblichkeit.“ schrieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, die sehr außer Mode gekommen ist. Dabei Raum und Zeit als Kontinuen zu beschreiben und zu denken, ist die Aufgabe der Historiker: „Die Zeiträume, wir mögen sie uns von Jahrhunderten oder Jahrtausenden vorstellen, welche den Völkern vor der Geschichtsschreibung verflossen sind und mit Revolutionen, mit Wanderungen, mit den wildesten Veränderungen mögen angefüllt gewesen sein, sind darum ohne objektive Geschichte, weil sie keine subjektive, keine Geschichtserzählung aufweisen.“ Solange es keine Geschichtenerzähler gibt, gibt es keine Geschichte. Früher erzählten sie Großväter am Lagerfeuer, später dann Chronisten wie Mönche und anschließend dann professionelle Historiker, die es allerdings auch schon in der Antike gab, die daraus viel später jedoch eine eigene Zunft mit Regeln und Prinzipien machten und in die akademischen Weihen hoben.

Dabei trägt die deutsche Geschichtswissenschaft die Altlast, dass sie sich zu lange um sich selbst gedreht hat und andere Erdteile dabei fast aus dem Auge verlor. Dieses Beschäftigen mit sich selbst mag von Deutschlands geostrategischer Lage her begründet gewesen sein: eingezwängt zwischen Grenzen lauter anderer Staaten, von denen es sich bedroht fühlte. Die Erforschung der deutschen Kolonialgeschichte beispielsweise musste zugunsten der englischen, französischen, portugiesischen, italienischen, spanischen und niederländischen zurückstehen. Und das zu Unrecht, wenn man daran denkt, wie sie die Lehren der Nazis beförderte. Auch wenn es so manchen allmählich langweilen mag, dass wer sich in Deutschland mit Geschichte beschäftigt unweigerlich immer mit dem Thema Nazis konfrontiert bleibt, geradezu ein wunder Punkt im Meer der vieltausendjährigen gespeicherten Geschichtsereignisse, wird es nicht dadurch besser, dass man das Thema ad acta legt oder durch andere Vergleichsstudien umschifft. Langeweile ist angesichts des steigenden Zulaufs und der Sympathie für rechtes Gedankengut nicht angebracht. Wie eine zeitgenössische Historikerin zurecht bemerkt hat, konnte sich jedoch nicht überarbeiten, wer hierzulande über das Pendant der außereuropäischen Geschichte arbeitete, obwohl sie naturgemäß so viel weitläufiger ist als die deutsche. In Deutschland lebt heute nur 1% der Weltbevölkerung. Wie vermessen, es vor diesem Hintergrund zum Mittelpunkt des Geschehens machen zu wollen.

Die Welt“ hingegen nehmen die meisten in ihrem Dorf, in ihrer Stadt, in ihrem Viertel, an ihrem Arbeitsplatz, in der eigenen Familie, in der Schule, im Freundeskreis, unter Nachbarn, im Sport, im Fernsehen, Radio und in Zeitungen und Zeitschriften (also den Medien) und auf Reisen wahr. Was in ihr geschieht wird für uns durch die Nachrichten vorselektiert. Wer sich für mehr interessiert, liest zusätzlich Bücher über Geschichte, Politik, Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Wirtschaft, Technologie, Religion und Literatur. Erfreulich ist, dass heute trotz oder wegen Internet und Handys das Lesen von Büchern wieder großen Zulauf genießt, das Buchmessen gut besucht werden und dass Dokumentationen über Geschichte und Sendungen mit einem gewissen intellektuellen Anspruch relativ hohe Zuschauerzahlen zu verzeichnen haben. Doch das genügt nicht: in den Schulen und Universitäten muss mehr Raum für Diskussionen geschaffen werden und gleichzeitig sicher gestellt sein, dass genügend Zeit für Lektüre bleibt. Wenn Studenten eher von dem Stress getrieben sind, wie sie alle nötigen Scheine zusammenbekommen oder wie ihr B.A. oder M.A. am lukrativsten auf dem Arbeitsmarkt verwertet werden kann, hat nicht genügend Zeit, um sich kritisch mit den gelesenen Inhalten und Thesen auseinander zu setzen.

Als ich anfing Geschichte, Soziologie und Politik zu studieren, tat ich das mit der Absicht die Gesellschaft besser zu verstehen, um meine Allgemeinbildung zu vermehren und um mitreden zu können bei den Themen, die in der Öffentlichkeit, häufig von Journalisten, Lehrern und Politikern vorgegeben, die Agenda bestimmten. Dabei hatte ich in der Schule und von zuhause schon viel davon mitbekommen. Aber mich haben die Details interessiert, was andere zu dem geschrieben haben, was mich bereits früh bewegte: wie es zum Holocaust kommen konnte, was nationale Identitäten ausmacht, warum Krieg immer als Mittel der Politik zum Einsatz kam, ob man einen Atomkrieg wird verhindern können, warum im Kapitalismus so vieles ungleich verteilt ist und wie man – um mit Kants Postulat zu sprechen – mehr Gerechtigkeit herstellen kann, auch wenn er richtig beobachtet hat, dass sie sich nie gänzlich wird herbeiführen lassen. Ist ein bestimmtes Maß an Grausamkeit, Intoleranz, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Ignoranz tatsächlich in allen menschlichen Gesellschaften vorprogrammiert und rechtfertigen sie sich durch die Ungleichheit der Herkunft, und der Kapazitäten, Talente und Ziele der Einzelnen?

Ich bekam Antworten im Studium, die eher die Zusammenhänge, die Hintergründe und die Prozesse erklärten. Dass alles mit allem irgendwie zusammenhing, war mir indes schon vorher klar, doch inwieweit und warum? Die Geschichte liefert uns Antworten, auch wenn Hegel insistiert, dass Regierungen noch nie aus ihr gelernt hätten. Regierungen aber werden oft genug gewählt und setzen sich aus Bürgern zusammen, die bereit sind, aus unterschiedlichsten Gründen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, auch wenn dabei häufig Korruption, Missmanagement und Größenwahn herauskommen. Selbst die Nazis haben mit dem Allgemeinwohl argumentiert und den Kommunisten ging es um nichts weniger als eine klassenlose Gesellschaft, in der jede/r nach seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten sich entfalten können sollte. Beide sind gescheitert, und in der Geschichte können wir nachlesen warum und wie dieses Scheitern zustande kam.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die nicht von der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen bestimmt ist und in der die Einzelnen sich dafür interessieren, was in der Politik für sie und oft gegen sie entschieden wird, in der sie mitentscheiden dürfen, und das nicht nur an der Wahlurne, in der sie über die besten Lösungen diskutieren, Vorschläge machen und Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Wohlstand für alle vermehren helfen. Ich wünsche mir keine Gesellschaft, in der nur die Stärkeren, Rücksichtsloseren und Lauteren gewinnen, in der jeder nur an sich denkt und die Zukunft ausklammert. Eine lebenswerte Gesellschaft gelingt nur, wenn wir uns füreinander interessieren. Es gibt in der Tat Hoffnung: Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht von der Linken und Marina Weisband von den Piraten sprechen die Probleme konkreter an als viele andere und stehen mit ihrer Person für mehr Fortschritt, wobei sie ihren Frauenbonus geschickt einzusetzen verstehen. Was jedoch fehlt sind machbare Vorschläge zur Veränderung: während sie sehr genau sehen, was schief läuft und was geändert werden könnte, haben sie relativ wenig dazu zu sagen, wie es gehen soll. Marina Weisband betont die Wichtigkeit der Bildung und der „liquid democracy“ und Sahra Wagenknecht die Zerschlagung des Finanzsektors bzw. die Verstaatlichung der Banken und eine Besteuerung der Reichen. Wäre uns tatsächlich damit gedient, wenn mehr Geld für Bildung ausgegeben werden würde, quasi eine Verschiebung vorgenommen würde, die das Geld von den Banken weg zu den Schulen befördert? Dass es nicht allein mit Geld zu lösen ist, ist indes klar, aber das alles etwas kostet auch.

Wir müssen viel tiefer an die Wurzeln: die Bildungsinhalte bedürfen der Veränderung und Ausdehnung und mit ihnen die Bildungsmethoden und -ziele. Wir müssen uns fragen, wie die Parlamente zukünftig funktionieren sollen, in der auch die Abgeordneten wieder mehr Zeit brauchen, um sich eingehender mit Anträgen zu beschäftigen und in der Bestechung keinen und Lobbyisten immer weniger Platz haben, wie die Politiker ausgestattet sein sollen, die immer größeren Anforderungen gerecht werden müssen, wie moderne Arbeitsplätze aussehen dürfen in einer Gesellschaft, in der das Gut „Arbeit“ durch Automatisierung tendenziell eher weniger wird als mehr. Wir müssen die Prämissen von Wachstum und Ressourcenausbeutung in Frage stellen und uns zu fragen, was der Mensch tatsächlich braucht, um glücklich, solidarisch und zufrieden zu sein. Es soll bekanntlich Menschen geben wie die New Yorker Ökologie-Studentin Lauren Singer, die ihren produzierten Müll in ein Einmachglas verstauen kann, weil sie alles in Gläsern abfüllt, dieselbe Seife für Geschirr und Haare verwendet und keine Schminke benutzt. Okay, die Amerikaner verfallen gerne in Extreme und viele von ihnen haben tatsächlich einen an der Pfanne. Aber sie leben zumindest stellenweise vor, dass Utopien keine Papiertiger bleiben müssen. Die drei großen K sind das Problem: Konsumverhalten, Konkurrenzverhalten und Konditionierung im Gruppenverhalten. Ausgehend vom heutigen Menschen und seiner Umwelt und nicht etwa von einer in einer fernen Zukunft liegenden unrealistischen Utopie, die einen „neuen Menschen“ entwirft, die nichts mit seinen Bedürfnissen und Idealen zu tun hat, kann man tatsächlich Lösungen finden. Idealismus versus Pragmatismus lautet die Losung: derzeit leben wir in einer pragmatischen Gesellschaft, in der nicht die idealsten Lösungen zum Zuge kommen, sondern die am einfachsten, bequemsten und am billigsten machbaren. Die idealsten Lösungen können aber aufwändiger sein, komplizierter zu realisieren. Die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit zu wecken, die denken, solange ich mein Auskommen habe, mein Auto, meine Kaffeemaschine und meinen Fernseher, sei alles in Ordnung, ist vielleicht das Schwierigste überhaupt. Vor allem in einem Land wie Deutschland, wo man sich gerne an liebgewonnene Gewohnheiten hält.

Und wie aktuell es ist, sich mit der jüngsten Geschichte auseinandersetzen zu müssen, wenn man eine menschliche und zivilisierte Zukunft möchte, sieht man an Ereignissen und Gruppenbildungen wie in Dortmund-Dorstfeld. Und in anderen Städten, ob nun im Osten oder im Westen der Republik, in kleinerem Maßstab ebenso und nur weniger prominent. Udo Lindenberg konnte seinen imaginären Sonderzug nur bis Pankow verschicken. In der Realität fahren schon viele Sonderzüge in die komplett falsche Richtung.