Rezension:

Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und
Kommunikation in der Frühen Neuzeit, J.B. Metzler Stuttgart/Weimar 2007


Der vorliegende Band erhebt mit dem Blick des historischen Anthropologen die "Unanständigkeit der Gelehrten" zum wissenschaftlichen Gegenstand und entledigt diese ihres rein akademischen Ressorts. Hat Unanständigkeit doch eine menschliche Dimension, die nicht Akademikern und Gelehrten eigen, sondern klassen-, schichten- und milieuübergreifend ist. Dabei begreift der Autor Martin Mulsow, der an der Universität Gotha tätig ist und eine beachtliche Reihe an Stationen akademischen Wirkens hinter sich hat (u. a. München, Princeton und Paris), Unanständige als "Außenseiter", die jenseits des Wertekodexes der Gelehrtengemeinschaft agieren. Diese wiederum hat ihre eigenen Regeln der Inklusion und Exklusion festgesetzt, und handelt somit selbst nicht immer anständig, praktiziert sie doch gelegentlich symbolische oder reale Gewalt, wie Mulsow zu Recht betont. Gelehrsamkeit als das "Geschäft der Gelehrten" ist dabei eine Praxis, die nicht im Elfenbeinturm stattfindet, sondern im Kommunikationsraum der Gelehrtenrepublik, der sogenannten „République des lettres". Innerhalb dieser möchte der Autor Zivilität und Umgangsformen untersuchen. Im französischen Sprachgebrauch suggeriert der Begriff der "républiques des lettres" eine idealtypische Vorstellung von der Herrschaft der Gelehrten, die quasi ihre eigene Republik auf Grundlage der Bildung gründen und darin agieren. Gemeint ist jedoch allenfalls die Gemeinschaft der unter sich wirkenden und handelnden Gelehrten, die "ihre" ideelle Republik dadurch schufen, dass sie ihren eigenen Handlungsspielraum gestalteten.

In sechs Essays und insgesamt acht Kapiteln auf 236 Seiten bringt Mulsow seinem Leser in akribischer Detailgenauigkeit und mit reichhaltigem Material in zuweilen anekdotenhafter Manier nahe, was in diesem Kontext frühneuzeitliche Libertinage bedeutete. Despektierliches, Frechheit, Obszönität, Heterodoxie oder sexuelle Freizügigkeit sind ebenso gemeint wie die philosophische Libertinage, die Freizügigkeit erlaubt, "ohne in toto auf Konfrontationskurs mit der Gesellschaft zu gehen". Welche Abgrenzung hier von der tatsächlichen Libertinage gemeint ist, bleibt unklar. Ist diese bloß ein philosophisches Sinnen, eine Gesinnungshaltung oder eine Wunschvorstellung, die von bestimmten philosophischen Prämissen ausgeht, ohne wirkmächtig zu werden und dadurch die beschworene Konfrontation meidet? Ist sie deshalb die „sanfte Variante“?

Mulsow bricht bereits einleitend eine Lanze für die Frühneuzeitforschung. Aufgrund der ausreichenden Ferne zum beobachteten Phänomen und des Quellenreichtums kann sie geradezu als Vorreiterin bei der Erkundung der Geschichte der Wissenschaften fungieren. Allerdings gilt es dabei dem frühneuzeitlichen Wissenschaftsverständnis Rechnung zu tragen. Naturforschung, Philosophie und Theologie können nur als oszillierend, nicht voneinander getrennt verstanden werden, wie der Autor bereits im Vorwort kenntlich macht. Die Frühe Neuzeit als ideales Forschungsfeld der Wissenschaftsgeschichte etablieren zu wollen, wird offenbar, kann allerdings in den weiteren Ausführungen nicht ausreichend stark gemacht werden, ja der Ansatz wirkt angesichts der Auswahl des Sujets der sexuellen Freizügigkeit nicht hinreichend überzeugend. Verbindet man doch ganz zentral mit der Entwicklung der Wissenschaften viel eher Figuren wie Leonardo da Vinci, und nicht vorrangig die Präferenzen und Querelen anderer weit weniger bedeutsamer Gelehrter.

Mulsow ist bestrebt den „geisteswissenschaftlichen Nischen“ nachzuspüren, in denen "deep plays" und Libertinage - "der Zeitvertreib hart arbeitender Wissenschaftler" - gedeihen konnte. Dabei spart er Parodien und ironische Anspielungen auf sexuelle Doppelbedeutungen keineswegs aus. Als Feldforschung der Alltagsgeschichte der Gelehrten reiht Mulsow schließlich auch den Blick hinter die Kulissen und Fassaden der Selbstinszenierung als Kontrast zu den Selbstaussagen der Betroffenen ein, der die "Charlatanerie" der Gelehrten offen legen soll. Mit dem „Ioco-Seriösen“ (Halbscherzhaften) führt Mulsow schließlich einen Begriff ein, der an den Grenzen des Akademischen wandelt: beim Zeitvertreib, in den Studentenzirkeln und privaten Kabinetten. Dem burlesken Denken, das den Mesalliancen, die der Autor zutreffend als "Ähnlichkeitsbeziehungen, die intellektuell und gesellschaftlich nicht geduldet sind“ definiert, Tür und Tor öffnet. Diese gedeihen im "Ioco-Seriösen" Raum und der Autor widmet diesem seine Aufmerksamkeit, da von hier aus das Übergreifen auf theoretische und gesellschaftliche Kontexte möglich werde. Darin sieht Mulsow ein beachtliches Veränderungspotential, das er in marxistischer Diktion als den "Mehrwert" bezeichnet, womit wohl kaum die ökonomischen Parameter innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise gemeint sind, sondern der Zugewinn an Erkenntnis. Für gesellschaftliches Veränderungspotential würde ein marxistisch geprägter Historiker vorzugsweise von der "nahenden Revolution" bzw. dem "revolutionären Potential" sprechen. Ob dies eines der hintergründigen Motive des Autors beim Verfassen des Buches solch vermeintlich skandalträchtigen Inhalts war, sei dahingestellt. Die Begriffswahl scheint hier lediglich die Absicht der demonstrativen Verwendung eines spezialisierten Vokabulars widerzuspiegeln, an dem es den Historikern allzu häufig mangelt und die deshalb gerne auf Anleihen in den stärker geschulten Sozialwissenschaften zurückgreifen. So sehr diese Interdisziplinarität wünschenswert ist, so sehr bedient sie zugleich den Vorwurf von der oft bemängelten methodischen Leere der historischen Zunft, sobald es um Fragen jenseits der Hermeneutik, der Diachronie/Synchronie der Begriffsgeschichte oder der Annales-Zeitachsen geht. Dass der Autor diese Lücken mit marxistischem Vokabular füllen wollte, verdient Respekt, jedoch keinen Applaus, erweist er doch denjenigen einen Bärendienst, die angesichts der Frage nach dem eigentlichen Tun und Treiben der Historiker, verwirrt den Kopf schütteln. Die Eloquenz, mit der Mulsow seine übrigen Gedanken zu Papier bringt, steht hier zudem in prekärem Gegensatz zu inhaltlicher Korrektheit und angemessener Wortwahl. Auch treten thematische Überschneidungen zwischen den Essays auf, die nicht immer klar voneinander abgrenzbare Fragen behandeln. So tauchen die Zirkel und Kabinette erneut auf und die Frage nach der Freiheit und dem abweichenden Verhalten in abgewandelter Form ebenfalls.

Im letzten Essay greift Mulsow schließlich das pikante Thema der Gelehrtennetzwerke auf, die in einem Geflecht von Gegen-Netzwerken agieren. Hier weist der Autor eine erstaunliche Nähe zu gegenwärtigen Problemkonstellationen auf und entfernt sich nicht nur gedanklich von der Frühen Neuzeit. Die Frage steht im Raum, ob er bei der Behandlung des Themas nicht auf die Funktionsweisen des akademischen Betriebes im Allgemeinen anspielen wollte. Im Gewand der fortschrittlichen und bedeutsamen Frühneuzeitforschung wird der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte schmackhaft gemacht, um quasi durch die Hintertür die Fragen des im Hier und Jetzt ausgetragenen personellen Hickhacks und der gegenseitigen Antipathien, doch seltenst die der sachlichen Auseinandersetzungen zu behandeln. Hier bedient der Autor jenes Klischee, das den ungelehrsamen und unbelehrbaren Gelehrten anhaftet: zu wenig im wahren Dienste der Wissenschaft und Forschung voranzubringen als vielmehr das Feld persönlicher Animositäten abzustecken, um dabei auch noch - oh, schreck! - sexueller Freizügigkeit zu frönen. Es erschließt sich jedoch nicht auf den ersten Blick, dass die vermeintlich wichtigste Epoche bei der Erkundung der Wissenschaftsgeschichte ausgerechnet Aufschluss über den Diskurs der sexuellen Freizügigkeit, des abweichenden Verhaltens in Fragen der Lust und die entsprechenden Kommunikationsweisen der Gelehrten geben muss. Die Freiheit des Gelehrten bei der Auswahl des Sujets in allen Ehren: Als mindestens genauso bedeutsam könnte man die Frage nach den Nachbarschaftsbeziehungen der damaligen Gesellschaft und die Veränderungen des europäischen Weltbildes mit der Entdeckung neuer Regionen einstufen. Zweifellos: auch sexuelle Präferenzen und die entsprechenden Lebensstile gehören mittlerweile zum Fächerkanon der Wissenschaften und des wissenschaftlichen Erkundungseifers, zeugen jedoch eher von einer Verhaftung in der Gegenwart, denn von einem überzeugenden Bemühen um frühneuzeitliche historische Anthropologie.

Dem Autor kommt nichtsdestoweniger das Verdienst zugute, ein Thema angeschnitten zu haben, das allzu oft in der Grauzone des akademischen Wirkens verharrt und zu selten das Licht der eingehenden Analyse erblickt. Dieses Desiderat erfüllt zu haben, gehört neben der Detailtreue, der Originalität der Quellen und der sprachlichen Eloquenz zu den zweifellos hervorzuhebenden Stärken des Buches. Es ist mit den erwähnten Ausnahmen schlüssig argumentiert und lesenswert. Ob es dadurch jedoch den Anspruch einlöst, Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit als Königsweg der Wissenschaftsgeschichte zu etablieren, wird sich noch erweisen müssen.

 

geschrieben von Dr. Devrim Karahasan (2010)